Das Schilf wog sich sanft im dampfig heißen Wind. Gleichmütig wehte er gleichsam dem Wispern von Geistern über die raschelnden Halme, wie die entfernten Stimmen vor langer Zeit Verstorbener …
Unzori erhob sich vorsichtig aus ihrer Deckung und spähte über das silbern glitzernde Wasser des Sees. Wo „beim gerechten Tod des Boten“ blieb nur Umpenzi?? Er hatte gesagt, sie sollte hier auf ihn warten. Genau dann, wenn die Sonnen zwei Handbreit über dem Horizont standen. Doch jetzt berührten sie bereits den Rand der Welt und tauchten die Bäume des Dschungels in ein schummriges Dämmerlicht.
Es musste etwas passiert sein. Umpenzi wäre sonst schon längst hier gewesen. Er liebte sie und sie liebte ihn. Und er hatte ihr versprochen, dass sie aus dem Kraal fliehen würden. Gemeinsam. Zuerst bis zum Anbruch der Nacht in Richtung Mittag und dann zum Strand in Richtung Abend. Und von dort immer weiter fort, bis sie in Sicherheit waren – weit weg vom bösen Geisterbeschwörer Dawamtu, der sie als Braut für den „Sumpfgott“ auserkoren hatte.
Unzori blickte über ihre zarte Schulter. Ihre Brüste hoben und senkten sich. Aus dem Kraal drang leise der monotone Gesang der Männer, der sich wie ein Klagelied hoch in den sternenübersäten Himmel erhob – bis zu den Verliesen der strafenden Götter.
Sie konnte nicht länger auf Umpenzi warten. Wenn er bis jetzt nicht hier war, dann hatte man zweifellos seine Pläne aufgedeckt. Und sie war auch in Gefahr. Dawamtu tat schreckliche Dinge mit all jenen, die den „Sumpfgott“ um sein rechtmäßiges Opfer betrügen wollten. Und es wurde immer dämmriger. Wenn sie noch länger zuwartete, würde es so dunkel werden, dass sie die Hand nicht mehr vor Augen sah. Und bis dahin musste sie weit weg von hier sein. Denn dann kroch der „Sumpfgott“ ans Ufer, um sein Opfer einzufordern …
Sie lief los. Der weiche Boden gab unter ihren Füßen nach und mehr als einmal versank sie bis zu den Knöcheln in dem matschigen Morast. Weiter! Schneller! Immer in Richtung Mittag. Solange sie noch genug sehen konnte. Weg vom See. Das Sumpfgras wechselte zu dichterer Vegetation. Dornenranken wanden sich von den Bäumen herab. Atemlos sah sie sich um. Zwecklos. Sie musste schon jetzt in Richtung des weit entfernten Strands schwenken, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, sich heillos im Dschungel zu verirren. Solange sie sich nur weit genug vom See fernhielt, war sie sicher, oder? Die „Kinder“ des Sumpfgottes stießen an die Wasseroberfläche und verschwanden schneller wieder in den sanften Wellen, als es das Auge erfassen konnte. Das Platschen hallte als schreckliche Warnung in ihren Ohren wider.
Das war ein böser Ort! Selbst die „Sternenschweber“, die mit ihren Schwingen den Himmel beherrschten, mieden diesen See.
Sie lief weiter. Spürte das Kratzen der Dornen kaum. Völlig außer Atem blieb sie stehen. Ihre Haut glänzte matt vor Schweiß. Die beiden Mondsicheln spiegelten sich in der kräuselnden Wasseroberfläche. Ein starker Pollenduft lag in der Luft. War sie weit genug? Konnte sie hier rasten?
„Unzori …“
Umpenzi!
Seine Stimme säuselte als leises Flüstern über die Grashalme. Erleichtert blieb sie stehen.
Etwas streifte ihren Arm. Mit einer zärtlichen Berührung. Ihre Haut kribbelte.
„Umpenzi“, stieß sie freudig aus. Etwas küsste ihren Hals und sie schloss seufzend die Augen. Biss sich sehnsüchtig auf die Unterlippe. Was für ein Kuss. Sie mochte, wenn Umpenzi sie mit seinen Lippen verwöhnte.
„Umpenzi … Wie hast du mich gefunden? Wir … Wir müssen von hier fort.“
Doch er hörte nicht. Vielleicht liebte sie ja gerade das an ihm. Dass er nie genug von ihr bekommen konnte. Seine Lippen … küssten sich den Weg abwärts über ihren Rücken. Zu ihrem Po. Zielsicher fand seine Zunge ihre empfindliche Stelle. Sie zuckte und stöhnte laut auf. Seine Hände oder was auch immer es war … Es strich sanft ihre Innenschenkel zu ihrem Venushügel hinauf. Ein Schauer wollüstiger Erwartung erfasste sie.
„Dafür haben wir keine Zeit“, flüsterte sie willensschwach, sich dunkel dessen bewusst, dass sie ihm nachgeben würde. Sich ihm nicht länger verweigern konnte – jetzt, wo sie endlich frei waren. „Umpenzi …“
Sie wollte den Kopf wenden und ihn küssen. Seine Lippen verschlingen. Mit ihm verschmelzen. Einswerden.
Doch …
Er war nicht da.
Er war nirgends!
Sie drehte sich im Kreis und stieß einen panischen Schrei aus. Es waren weder menschliche Hände noch Lippen, die nach ihr griffen, sondern etwas anderes – etwas völlig anderes!
Lange, zappelnde Tentakel holten nach ihr aus, von denen jeder einzelne ein gespenstisches Eigenleben besaß. Sie wanden sich um ihre Beine, schlangen sich um ihre Mitte und tasteten nach jeder Körperöffnung.
Der Sumpfgott!!
Bei allen Kreaturen des Himmelsherrn!!
Er kam sie holen!!!
Mit einem Schluchzen geboren aus Angst und Wut versuchte sie, sich loszureißen und wegzulaufen. Nach nur zwei Schritten stolperte sie und fiel der Länge nach hin. Hinter ihr erklang ein Schmatzen, Gurgeln und Pfeifen. Die Tentakel schnellten vor. Bekamen ihre Beine zu fassen und rissen sie nach hinten. Zogen sie unerbittlich in die Dunkelheit. Schreiend krallte sie ihre Finger in den morastigen Boden und versuchte sich festzuhalten. Doch sie war gegen die Kraft machtlos. Die Welt verschwamm in einem Meer aus Tränen.
„Umpenzi!!!“
Mit einem lauten Schnalzen wickelten sich weitere Fangarme um ihren Körper und packten ihre Arme. Hoben sie hoch. Ein riesenhafter Schatten erhob sich über ihr gegen den Sternenhimmel. Noch mehr windende Fangarme, noch mehr Tentakel, die in alle Richtungen peitschten. Es war beinahe zu viel für einen einzigen Verstand. Ein ersticktes Krächzen verließ ihre Stimmbänder.
Ein Fangarm schnürte sich um ihren Hals. Drückte ihr die Luft ab. Ein anderer füllte ihren zum Schrei geöffneten Mund. Ein glibberiger Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus. Ein Geschmack süß wie der Nektar von Traubenkäfern. Sie trank diese Essenz. Berauschte sich an ihr. Trieb auf ihr dahin. Ein letzter Funke ihres Verstands schrie danach, sich zu wehren. Dagegen anzukämpfen. Doch ihre Kräfte versagten und ihre Bewegungen erstarben.
Eingebettet in warmen Glibber sank sie zurück. Weich … war alles, was ihr durch den Kopf ging. Weich und angenehm. Als wäre sie allseitig von den liebevollen Zuwendungen zahlloser Liebhaber umgeben. Suchend wanden sich die Tentakelspitzen um ihren Leib, bis sie fanden, wonach es sie verlangte. Ihre Schamlippen zuckten um die Tentakelspitze, ihr Poloch pulsierte und ihre Lippen saugten an dem süßen Nektar, die ihren Verstand mehr und mehr in einen dichten Nebel tauchte.
„Umpenzi …“, murmelte sie undeutlich.
Doch er hörte sie nicht. Niemand hörte ihr letztes, verzweifeltes Schluchzen.
Ein Lächeln zuckte über ihre Lippen und endgültige Dunkelheit legte sich auf ihre Gedanken. Das Glucksen, Schmatzen und Zischen verstummte und eisige Grabesstille senkte sich über das morastige Ufer des Sees …
Gnadenlos brannten die drei Sonnen auf die fünf Reiterinnen herab. Dala wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah zu den anderen zurück. Tapfer bahnten sich die Windfußstuten einen Weg durch das hüfthohe Sumpfgras. Der Boden wurde matschiger. Die Tiere versanken immer wieder bis zu den Fesseln im Morast.
„Ich habe kein gutes Gefühl dabei.“ Alsu sah sich nervös in alle Richtungen um und erschauderte sichtlich. Dala entschied, dass sie als Jüngste gar nicht hätte hier sein dürfen – so weit fern der Heimat. Dieser Ritt war nichts für ein Mädchen ihres Alters.
„Du hattest doch noch nie ein gutes Gefühl“, zog Nihaya sie auf. „Aber meine Idee wird sich noch als goldrichtig herausstellen. Glaubt mir … Hierher verfolgen uns die schwarzen Teufel nicht. Keine Kumaa-Krieger weit und breit.“
Dala leckte sich über die ausgedorrten Lippen. Die scharfkantigen Blätter der Gräser zerkratzten die nackten Oberschenkel der Mädchen.
„Mit Einbruch der Nacht machen wir Rast“, fuhr Nihaya fort. „Und vor dem Morgengrauen reiten wir nach Süden, bevor diese Wilden dahinterkommen, wohin wir uns verkrümelt haben.“
„Woher willst du wissen, dass sie uns nicht verfolgen?!“ Baeid klang genauso bitter, wie sie aussah.
„Der Gefangene“, knurrte Nihaya zufrieden. „Dieser See wird von allen Stämmen gemieden. Wegen irgendeiner geheimnisvollen Zauberei … Buuuhhh.“ Sie zeichnete mit den Händen Magie in die Luft – oder das, was sie dafür hielt. „Ein schauriger Dämon …“
„Du hättest ihn am Leben lassen sollen“, schüttelte Baeid den Kopf.
„Der war doch zu nichts mehr nütze“, sprang Pila ihrer Schwester Nihaya schützend zu Hilfe. „Hatte nicht das Zeug, Vater unseres Nachwuchses zu werden. Außerdem hätte er uns bei der erstbesten Gelegenheit verraten. Er wollte uns in eine Falle locken.“
„Trotzdem“, beharrte Baeid.
Dala war versucht, ihr recht zu geben. Dieser Dschungel … Nie zuvor waren sie so weit von zuhause weg gewesen wie jetzt. Und es war fraglich, ob schon jemals Reiterinnen der Steppe bis hierher vorgedrungen waren.
„Wo bleibt euer Abenteuergeist, Mädels?“, spöttelte Pila. „Kühn an Orte zu schreiten, die noch keine Frau je gesehen hat?!“
„Irgendjemand war bereits immer irgendwo“, zischte Baeid säuerlich.
„Aber nicht wir Dalas’Kani. Und die schwachköpfigen Kumaa-Frauen zählen nicht. Denkt doch nur an die Geschichten, die wir an den Lagerfeuern erzählen werden. Davon können die anderen nur träumen. Wir schreiben hier und jetzt Geschichte! Und wer weiß, was wir noch finden …“
„Und wenn wir doch auf Krieger treffen?“, warf Dala ein. „Auf mehr als uns lieb sein kann?!“
„Dann werden wir mit ihnen schon fertig“, lachte Nihaya. „Frauen wie uns sind sie noch nie begegnet. Sieh uns nur an! Die meisten Männer unterschätzen uns doch hoffnungslos und glotzen nur dämlich. Von Jomdah bis Anjou können sie ihre Stielaugen gar nicht von unseren leckeren Brüsten und wohlgeformten Ärschen loseisen.“ Sie zeichnete kichernd mit ihren Händen ihre „leckeren“ und „wohlgeformten“ Kurven nach. „Allein unser Anblick macht sie doch völlig schwach. Tja – und dann zeigen WIR ihnen, wo ihr Platz ist!“
„Also … Ähh“, stammelte die kleine Alsu.
„Jungfrauen ausgenommen“, ätzte Nihaya. „Wenn du dir endlich einen Mann fangen würdest, müsstest du nicht andauernd selbst an dir rumspielen.“
Alsu tat, als hätte sie die Schmähworte nicht gehört.
„Ich hoffe, dass alles gut ausgeht“, schauderte sie und …
Sie quietschte erschreckt auf. Panisch riss sie die Zügel ihrer Stute zurück.
Was zum …
Ein moosbewachsener Felsblock ragte im Gras auf. Verwitterte Totenschädel waren ihm zu Füßen aufgeschichtet und grinsten fratzenhaft in alle Richtungen.
„W-Was ist das?!“ Alsu verlor völlig die Beherrschung.
Dala spürte einen eisigen Luftzug. Irgendetwas Altes war hier. Es kroch ihr bis in die Knochen.
„Ein Opferstein“, hörte sie sich sagen. „Heiliger Boden …“
„Wohl eher ‚unheilig’“, spottete Nihaya und lenkte ihre Stute zum Felsen. Die Schädel kugelten von den Hufen getroffen davon. Das Knacken und Knirschen zerbrochener Knochen erfüllte die teerig heiße Luft.
„Eine Warnung“, verkündete Alsu düster.
„Euch macht doch wohl dieser dumme Aberglaube keine Angst, oder? Teufel, Dämonen, Götter … Ist doch alles Unsinn!“ Nihaya versetzte dem Felsen einen Tritt, doch der blieb unbeeindruckt stehen. Sie probierte es wütend noch einmal aber ohne Erfolg.
„Nihaya“, warnte Pila. „Komm, Schwester, wir sollten weiterreiten. Je eher, wir von hier verschwinden, desto besser.“
„Der Mann sagte, hier gäbe es einen See“, knurrte Nihaya mürrisch und kickte ihrer Stute die Fersen in die Flanken. „Den müssen wir finden, sonst verdursten die Tiere – und wir auch!“
„Aber dann verschwinden wir von hier“, schlug Alsu eifrig vor. „Ganz schnell.“
…